Under Pressure
Von Leonie Werus, Ausgabe 09/25, 31. Oktober 2025 aus Tirolerin
Interview mit Caroline Culen und Golli Marboe zu “Jugend unter Druck”
Wer heute jung ist, steht vor großen Erwartungen - an sich selbst, an die Zukunft, an das Leben. Deshalb braucht es Mut, über Belastungen zu sprechen, bevor sie zu groß werden, sagen Caroline Culen und Golli Marboe.
Es ist ein Paradox unserer Zeit: Noch nie wurde so viel über mentale Gesundheit gesprochen - und doch geht es vielen jungen Menschen schlechter denn je. Immer mehr Jugendliche fühlen sich erschöpft, überfordert oder unter Druck gesetzt. Schule, Social Media, Zukunftsängste - viele wissen kaum noch, wie sie all dem standhalten sollen. Wie lässt sich dieser Druck verringern? Was können Eltern, Pädagog: innen und die Gesellschaft tun, um Jugendliche zu stärken? Mit ihrem Buch „Jugend unter Druck" möchten Caroline Culen und Golli Marboe Antworten geben und vor allem Mut machen, offener über seelische Belastungen zu sprechen. Caroline Culen bringt als Psychologin und Vierfach-Mama ihre langjährige Erfahrung aus der Arbeit mit Familien und Jugendlichen ein; der Journalist Golli Marboe hat den Suizid seines Sohnes erlebt und setzt sich seither dafür ein, psychische Gesundheit an Schulen sichtbar zu machen. Im Gespräch erzählen sie, was junge Menschen heute besonders belastet, wie Eltern unterstützen können und warum es so wichtig ist, über seelische Gesundheit zu reden - nicht erst dann, wenn es weh tut.
Wer von Ihnen beiden hat sich heute schon Gedanken über die eigene psychische Verfassung gemacht?
Caroline Culen: Als Psychologin gehört das für mich zum Alltag wie Zähneputzen. Nach 30 Jahren Berufserfahrung ist es Routine, regelmäßig innezuhalten und in mich hineinzuhören.
Golli Marboe: Ich wünschte, ich könnte das auch sagen. Aber ich muss gestehen: Es gelingt mir nicht immer, unsere eigenen Ratschläge zu befolgen. Heute zum Beispiel bin ich einfach so in den Tag hineingestolpert ohne groß darüber nachzudenken, wie es mir eigentlich geht.
Warum fällt es uns so schwer, über psychische Gesundheit so natürlich zu reden wie über die körperliche?
Golli Marboe: Weil wir ständig Bildern und Erwartungen hinterherjagen. Das kommt daher, dass wir schon als kleine Kinder - bewusst oder unbewusst - vermittelt bekommen, wie wir zu sein haben. Ich wurde zum Beispiel von meinem Vater besonders gelobt, wenn ich seinem Bild eines Sohnes entsprach - das prägt. Psychische Themen sind zudem meist vielschichtig. Wenn jemand Bauchweh hat, sagt man einfach: „Mir tut der Bauch weh." Wenn eine Belastung allerdings seelische Ursachen hat - Stress, Familie, Entwicklungsphasen - wird es schwieriger, das in Worte zu fassen.
Caroline Culen: Und weil Offenheit Verletzlichkeit bedeutet. Über einen Schnupfen zu sprechen, ist einfach; psychische Themen gehen jedoch viel tiefer, und wir wollen uns vor Bewertungen, Meinungen oder Vorurteilen anderer schützen. Gleichzeitig hat sich aber schon viel verändert. Wir haben heute eine Sprache dafür, können anders über Belastungen sprechen - auch mit Kindern und Jugendlichen. Genau das wollten wir mit unserem Buch erreichen: mehr Worte, mehr Mut und mehr Bewusstsein für seelische Themen.
Ihr Buch trägt den Titel „Jugend unter Druck". Woher kommt dieser Druck bei Jugendlichen?
Caroline Culen: Die Jugend war immer schon eine Zeit der Herausforderungen - des Suchens, der Veränderung, der Selbstfindung. Neu ist, dass junge Menschen heute mit einer nie dagewesenen Informationsflut, globalen Krisen und einem hohen Leistungsdruck leben. Digitalisierung, Social Media und ständige Erreichbarkeit führen dazu, dass viele sagen: „Es ist einfach zu viel". Der Anspruch, alles gleichzeitig zu schaffen und dabei noch perfekt zu funktionieren, ist enorm gestiegen.
Golli Marboe: Was sich zum Glück außerdem geändert hat, ist, dass Jugendliche heute über diese Herausforderungen reden. Wir hatten früher ähnliche Sorgen, haben sie aber verdrängt oder verschwiegen. Insofern ist der Titel auch eine Einladung, offen zu sprechen. Diese romantische Vorstellung vom „wieder 16 sein" kann ich übrigens nicht teilen. Die Pubertät ist keine unbeschwerte Zeit, sondern eine intensive Phase der Selbstfindung.
Spricht man über psychische Gesundheit, denken viele sofort an Therapie. Sie sagen aber: Prävention muss schon viel früher beginnen. Wie kann das gelingen?
Golli Marboe: Wir sollten eine Gesellschaft schaffen, in der man zu Psycholog:innen geht wie zu Zahnarztkontrolle - bevor etwas weh tut, um zu lernen, über Gefühle zu sprechen und kleine Unausgeglichenheiten rechtzeitig zu erkennen. Psychologische Gespräche sollten nichts primär der Reparatur dienen, sondern vorbeugend wirken.
Caroline Culen: Ich vergleiche das gern mit einem Fitnessstudio für die Seele. Man kann lernen, mit Gefühlen und Gedanken umzugehen - so wie man Muskeln trainiert.
Viele Eltern sind verunsichert, wenn sie merken, dass ihre Kinder Probleme haben. Woran erkenne ich, ob mein Kind wirklich Unterstützung braucht, und nicht nur eine schwierige Phase durchmacht?
Golli Marboe: Lieber einmal zu früh Hilfe holen als einmal zu spät. Eltern spüren in der Regel, wenn etwas nicht stimmt. Sie würden ja auch bei körperlichen Symptomen nicht zögern, eine Ärztin oder einen Arzt zu konsultieren. Wichtig ist: Nicht jede Krise ist eine Krankheit. Identitätssuche, Liebeskummer oder Zukunftsängste gehören zum Erwachsenwerden. Manchmal hilft es schon, wenn Eltern präsent bleiben und Vertrauen geben - statt sofort Lösungen anzubieten.
Die sozialen Medien sind für viele Jugendliche allgegenwärtig. Wie können Eltern und Lehrkräfte damit umgehen?
Caroline Culen: Die Digitalisierung entwickelt sich schneller, als wir gesellschaftlich nachkommen. Viele Jugendliche etablieren aber bereits Strategien, um sich zu schützen, und stellen ihr Handy auf Flugmodus oder blockieren Apps, wenn sie merken, dass es ihnen zu viel wird. Aber gerade Kinder aus belasteten Familien sind gefährdeter, sich im Netz zu verlieren. Verbote bringen wenig, viel wichtiger sind analoge Angebote und Alternativen: gemeinsame Zeit, Sport, Gespräche, Räume, in denen echte Begegnung stattfindet.
Golli Marboe: Ich sehe das bei meinen Enkelkindern: Wenn wir gemeinsam spielen, verschwindet das Tablet von selbst. Eltern sollten sich nicht aus der digitalen Welt zurückziehen, sondern sie gemeinsam mit ihren Kindern erkunden, und sich zuerst selbst an der Nase nehmen. Wir müssen Regeln finden, ja - aber ohne Panik. Das dystopische Bild vom Untergang durch das Smartphone teile ich nicht. Ich bin überzeugt, dass wir lernen werden, gut damit umzugehen.
Herr Marboe, Sie haben die „mental health days" initiiert. Was ist der Gedanke dahinter?
Golli Marboe: Unser Ziel ist, psychische Gesundheit sichtbar zu machen, Gespräche anzuregen und auf Hilfsangebote hinzuweisen. Viele Jugendliche wissen gar nicht, wohin sie sich wenden können. Wir plädieren auch dafür, dass Schulen multiprofessionell arbeiten sollten - mit Psycholog:innen, Sozialarbeiter:innen, vielleicht auch Therapeut:innen. Pädagog:innen allein können diese Verantwortung nicht tragen. Wenn Corona etwas Positives hatte, dann, dass diese Entwicklung endlich Fahrt aufgenommen hat.
Wenn ihre Kinder belastet sind, bringt das oft auch die Eltern an ihre Grenzen. Wie wichtig ist es, dass sie auf sich selbst achten?
Caroline Culen: Ich habe viele Jahre im Kinderschutz gearbeitet und begleite heute Familien und Jugendliche. Oft hilft es wenig, nur mit dem Kind zu sprechen, wenn die Eltern selbst überfordert sind. Auch liebevolle, engagierte Eltern brauchen Unterstützung, um ihre Ängste loszuwerden. Wir brauchen stabile Eltern, um Kinder durch stürmische Zeiten zu begleiten. Hier gibt es definitiv noch Aufholbedarf - aktuell fehlt es an genügend Hilfsangeboten für Eltern.
Wie lautet Ihre Botschaft an alle, die gerade selbst „unter Druck" stehen?
Golli Marboe: Wir bewundern Künstlerinnen dafür, dass sie anders sind. Dieses Anderssein sollten wir in allen Lebensbereichen schätzen, denn unterschiedlich zu sein ist kein Makel, sondern Teil unserer Vielfalt. Wenn wir das begreifen, hätten wir gesellschaftlich viel gewonnen.
Caroline Culen: Ich möchte Mut machen. Auch wenn es Jugendlichen einmal richtig schlecht geht - das kann und wird sich ändern. Ich habe viele junge Menschen erlebt, die sich - manchmal binnen kürzester Zeit - aus scheinbar ausweglosen Situationen herausgearbeitet haben. Man darf nie aufhören, daran zu glauben, dass alles gut wird. Es lohnt sich, dranzubleiben - gerade in den schwierigsten Zeiten.
Von Leonie Werus, Ausgabe 09/25, 31. Oktober 2025 aus Tirolerin