“Ich breche ein Tabu”

Von Kerstin Ostendorf, 09. November 2025 aus neue KirchenZeitung - Katholisches Magazin für das Bistum Hamburg

Seit sein Sohn Tobias sich das Leben genommen hat, spricht der Journalist und Filmemacher Golli Marboe offen über Suizid, über Schuld und Schmerz. Er möchte für das Thema sensibilisieren und helfen, dass andere Menschen Warnsignale früher erkennen.

Manchmal fühlt sich Golli Marboe wie ein Experte, der er nie sein wollte. Seit sein Sohn Tobias sich vor fast sieben Jahren das Leben genommen hat, kommen fast täglich Menschen auf ihn zu, die vom Suizid eines Angehörigen oder Freundes erzählen. Sie suchen Trost und Rat bei ihm. Marboe freut sich über das Vertrauen, das die Menschen ihm entgegenbringen - doch es macht ihn auch betroffen: „Das Schreckliche an diesen wertschätzenden Vertrauensbekundungen liegt darin, dass sie zu mehr als 80 Prozent mit dem Satz enden: Du, bitte sag es niemandem!”

“Ich bin gescheitert”

Golli Marboe ist ein österreichischer Journalist und Buchautor. Als Produzent und Regisseur hat er Dokumentationen und Spielfilme gedreht. Seit dem Tod seines Sohnes treibt ihn aber ein anderes Thema um: Wie kann es gelingen, Suizide zu verhindern? Was muss sich gesellschaftlich, politisch und in den Medien ändern, damit Menschen den Tod nicht als Lösung sehen? Wie können wir lernen, besser auf uns zu achten - und Warnsignale bei anderen zu erkennen?

Tobias Marboe war 29 Jahre alt, als er starb. Er arbeitete als Künstler, schuf Bilder mit Wachs, schrieb Lieder und Texte, gestaltete Wort-Bild-Collagen. Doch der Erfolg blieb aus. Ihm fehlte die Wertschätzung, er fühlte sich einsam, litt unter Depressionen, hatte finanzielle Sorgen. Kurz vor seinem Tod verschärften sich die psychischen Probleme. Tobias sprach von dem Gefühl, dass Menschen oder Systeme nicht zuließen, dass er erfolgreich sei. Die Eltern wussten, dass es ihrem Sohn schlecht geht, und versuchten, ihm durch Liebe und Zuwendung zu helfen. Doch sie drangen nicht zu ihm durch. “Ich bin gescheitert. Meine Aufgabe als Vater habe ich nicht erfüllen können”, sagt Golli Marboe.

Seit dem Tod seines Sohnes beschäftigt er sich intensiv mit dem Thema Suizidprävention. “Mit dem Wissen von heute hätte ich möglicherweise viel früher erkannt, was sich da bei Tobias anbahnt”, sagt Marboe. Der Rückzug von der Familie, die ständige Traurigkeit, die verwirrenden Aussagen seien Warnsignale gewesen. Er möchte Menschen für solche Signale sensibilisieren und spricht daher offen über den Tod seines Sohnes. “Damit breche ich ein Tabu”, sagt Marboe. In Österreich nehmen sich etwa drei Menschen pro Tag das Leben: “Das ist eine ungeheure Zahl, auch wenn man bedenkt, wie viele Familien und Angehörige betroffen sind.”

Präventionsarbeit mit Schülern

Spricht man öffentlich über Suizide, gibt es die Angst, andere zur Nachahmung zu verleiten. Marboe glaubt, dass diese Angst unberechtigt ist. “Noch nie hat sich ein Mensch das Leben genommen, weil er gefragt wurde, ob er Suizidgedanken habe”, sagt er. Marboe plädiert für eine sensible und präventive Berichterstattung über Suizide: keine Bilder von Toten, kein Erklären von Tötungsmethoden, keine Vermutungen über Gründe und Ursachen. Er möchte zeigen, dass es Alternativen zum Suizid gibt - Gespräche, Therapien, Unterstützung: “Hilfe von außen zur Selbstermächtigung, das ist der Schlüssel.”

Deshalb geht er an Schulen und spricht mit Jugendlichen, Auszubildenden, Lehrkräften und Eltern über mentale Gesundheit. Über Mobbing und Essstörungen, Suchterkrankungen und Prüfungsängste, aber auch über Depressionen und Suizidgedanken. Im vergangenen Schuljahr hat er “Mental Health Days” an 250 Schulen in Österreich organisiert und rund 150 000 Schüler erreicht. “Das ist meine Antwort auf dieses riesige gesellschaftliche Thema”, sagt Marboe.

Er möchte die Schüler ermutigen, auf sich selbst und auf andere zu achten.”Bei den jungen Leuten ist eine große Bereitschaft, über psychisches Wohlbefinden zu reden”, sagt Marboe. Zugleich ermahnt er sie, sich Hilfe zu holen. “Ich sage den Schülern: Ihr seid nicht dazu da, das Problem zu lösen. Aber ihr seid dazu da, anderen Fragen zu stellen, wenn euer Bauchgefühl euch sagt, da stimmt etwas nicht.” Ein Mensch mit Suizidgedanken spüre dann: Ich bin nicht allein, ich werde gesehen. “So kann es gelingen, jemanden aus dieser suizidalen Verengung herauszuholen. Denn Menschen, die darüber nachdenken, sich zu töten, wollen eigentlich nicht tot sein. Sie halten es nur nicht aus, so weiterzuleben”, sagt Marboe.

Bei seinem Engagement für die Suizidprävention denkt er auch an das Leid der Hinterbliebenen und an die Schuldgefühle, die ein Suizid in der Familie auslösen kann. Ihm selbst hat nach dem Tod seines Sohnes vor allem eines geholfen: Zeit. “Es ist das einzig hilfreiche Mittel”, sagt Marboe. Er habe lernen müssen, mit dem Schmerz und der Trauer zu leben - und mit der Narbe, die bleibt. “Ich habe dieses Bild von einer asiatischen Keramiktechnik im Kopf: Ein krug, der zerbrochen ist, wird wieder zusammengesetzt und sorgsam geklebt. Es entsteht ein Einzelstück”, sagt Marboe. Ein Sinnbild für ihn: “Kein Mensch kommt ohneNarben durchs Leben.”

Von Kerstin Ostendorf, 09. November 2025 aus neue KirchenZeitung - Katholisches Magazin für das Bistum Hamburg

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Einladungen des Verbands Katholischer Publizistinnen und Publizisten Österreichs zu Demokratie und Suizidpräventiver Berichterstattung